Von Gesten, Spuren und Zeichen Anmerkungen zu den Gemeinschaftsarbeiten von Gerhard Lojen und Hans Bischoffshausen (2000)
Text von Kerstin Braun
I. Auf Gerhard Lojens Anregung treffen einander die beiden Künstler in Bischoffshausens Atelier, einer stillgelegten Volksschule an der Peripherie von Villach, um gemeinsam zu arbeiten. Das erste Mal im März 1983, das zweite Mal im Juni desselben Jahres. In dem großen ehemaligen Klassenraum, in dem auf Tischen verteilt Stapel von Kartons und Malmaterialien liegen, entstehen innerhalb von drei bis vier Tagen zwischen 40 und 50 Bilder. Sowohl Lojen als auch Bischoffshausen schöpfen aus ihrer reichen Erfahrung jahrzehntelanger künstlerischer Tätigkeit, die auf je individuelle Weise bestimmt ist von einem Streben nach größtmöglicher Vereinfachung und Konzentration.
Jeder arbeitet schweigsam für sich. Gründend auf einem gegenseitigen, freundschaftlichen Anerkennen, aber ohne vorangegangene künstlerische Übereinkunft, bilden nicht Worte die Kommunikationsbasis, sondern Farben, Formen, das künstlerische Material in den sich entwickelnden bildnerischen Ergebnissen. Kartons und Papiere werden gerissen, gefaltet, geknickt, geklebt, bemalt, geritzt. Realien werden eingebracht, zeichenhafte Formen appliziert. Materialteile, die der eine ablegt, werden vom anderen weiter verwendet. Genauso geschieht es mit den Bildern selbst: solche, die der eine für fertig erachtet, nimmt der andere wieder heran, um an ihnen weiterzuarbeiten, sie zu überarbeiten, zu verändern oder sogar zu zerstören und erneut zu beginnen. Auf diese Weise erfolgt die Bildfindung prozesshaft und die künstlerischen Beiträge beider Künstler verschmelzen zu einem im Rückblick nicht mehr genau zu differenzierenden Ganzen.
Die Bilder sind abstrakt und tragen bis auf wenige Ausnahmen keine Titel.1 Sie basieren auf einem freien, autonomen, a-mimetischen Einsatz der bildnerischen Mittel selbst, wie er in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts vor allem durch Kandinsky praktisch entwickelt und theoretisch fundiert wurde. Nach 1945 erreicht die abstrakte Gestaltungsweise in der breiten, radikal neuen Bewegung der internationalen ungegenständlichen, informellen Kunst einen ihrer Höhepunkte. Die neue Freiheit der Form und des künstlerischen Ausdrucks, die eine Brechung visueller, ästhetischer Normen und die Erweiterung des gestalterischen Freiraums mit sich bringt, thematisiert gegen den Krieg den individuellen schöpferischen Prozess als Ausdruck der menschlichen Freiheit.
Der Bestand an Spuren, Zeichenhaftem, Andeutungen und Gebilden, der sich dem oftmals hochformatigen Bildträger als Aktionsfeld eingeschrieben und mit der Signatur der Künstler Gültigkeit erlangt hat, orientiert sich weder an einem abbildenden Verhältnis zur Wirklichkeit noch an bereits existierenden Symbolen und Emblemen. Auch das Kreuz, das wiederholt in der Bildwelt auftaucht, wird in seiner bildnerischen Aneignung vieldeutig (so können zwei Linien durch eine Veränderung des Winkels, in dem sie sich kreuzen, auch ein X ergeben). Nicht eindeutig identifizierbare Botschaften und Bedeutungen, sondern ein Vokabular suggestiver, disjunkter Fragmente bilden die Bausteine einer gänzlich konkreten, mit sich selbst identischen Bildsprache. In der von Mustern und Vorbildern gelösten Spontaneität der visuellen Notation werden einzigartige, unwiederholbare, situationsgebundene Setzungen möglich. Es geht jedoch nicht um eine Malerei als Aktion oder um die Darstellung des Malaktes selbst. Der Gestaltungsakt, in dessen Verlauf sich die Bildfindung vollzieht, zielt stets auf ein bildhaftes Ergebnis.
Die künstlerische Praxis erweist sich als perspektivisch, relativ und relational. Der Begriff der Authentizität, den eine dem Prinzip der Spontaneität folgende Malerei stets vertritt, muss hier neu und in einem die Avantgarde-Moderne überwindenden Sinn gefasst werden. Denn dieser zielt nicht mehr auf das einzig Wahre und Echte, meint nicht länger die hinter den Erscheinungen zum Vorschein gebrachte „eigentliche" Realität, sondern die Vielfalt des Möglichen. Auch hierin findet die Hinwendung zum Zufälligen, Fragmentarischen eine Begründung, als Resonanz einer Welt, in der die Diskontinuität der Phänomene ein einheitliches und definitives Weltbild infrage gestellt hat.
II. Eine Aussage, die Lojen über seine Materialbilder aus den späten 50er Jahren trifft, ist auch noch für die Gemeinschaftsarbeiten mit Bischoffshausen von grundsätzlicher Bedeutung: „Der Materialeinsatz erfolgte kontrolliert, die Formgebung intuitiv.“2
Zufall und Intention, bildnerisches Kalkül und gestalterische Intuition bestimmen von Beginn an Lojens Arbeitsprozess gleichermaßen. Er entwickelt eine Methodik, welche die Balance zu finden versucht zwischen Gefühl und Intellekt, Struktur und Offenheit, Freiheit und Notwendigkeit. Dadurch entsteht ein bildnerisches Vokabular, das sowohl von der Eigenrealität, dem Eigenwert des Materials (den Malmitteln) selbst geprägt ist, als auch von gezielten Interventionen des Künstlers. In den mit Bischoffshausen geschaffenen Werken entfaltet sich die Bildvorstellung ohne vorangegangenen kompositorischen Entwurf auf empirischem Weg im Dialog zwischen Künstler und Material.
Der offene Spielraum einer materiellen Vitalität ist den Bildern auf vielfältige Weise zu eigen. Verschiedene Arbeitsschritte bringen den Zufall in die Gestaltung mit ein: ein oftmals vehementes, gestisches Aufbringen von zumeist weißer Farbe, der Einsatz von verrinnender Aquarellfarbe, das Reißen von Papier (v.a. von Japanpapier, bei dem aufgrund seiner Grobfasrigkeit unkalkulierbare Rissverläufe entstehen), das Entzünden von aufgesprühter Farbe (wo sich die Flamme über die Fläche des Blattes ihren Weg selbständig findet).
Der Eigendynamik des Materials stehen die intentionalen Eingriffe der Künstler gegenüber, wobei sich die spontane Vehemenz mit einem behutsam-kalkulierenden Vorgehen verbindet. Im bewussten Einsatz von Zufallsmomenten werden deren Kräfte entbunden und zugleich wieder formal gebunden. Reine Formgebärden – irreversible Bewegungen der Hand, welche eine zeitliche Dimension und eine räumliche Richtung besitzen – hinterlassen ihre Spuren, bilden sinnlich wahrnehmbare Konfigurationen, die miteinander kommunizieren, ohne sich zu einem gegenständlichen Sinn zu verfestigen. Als ästhetische selbstreferentielle Zeichengefüge begrenzen sie die Ausbreitung der Materie, integrieren und korrigieren die Freiheit der Farbe, des Materials. Die Künstler bilden Zäsuren, entwickeln geometrische oder regellose Formen mit Zeichencharakter. Gestische Beziehungen, Verhältnisse von Intentionen, sind zugleich formale Beziehungen, Verhältnisse von Zeichen.
Der Akt der bildnerischen Gestaltung, in weichem sich eine feine Balance aufbaut zwischen einer polyvalenten Zeichenhaftigkeit und der reinen Materialwirkung optisch-haptischer Reize, vollzieht sich ohne narrative Absicht autonom, gelöst von Inhalten literarischer oder thematischer Art. Die Konzentration auf den Umgang mit den verwendeten Materialien äußert sich in einer größtmöglichen Verknappung und Reduktion der Formensprache, in der sensible geistige und visuelle Prozesse zur Anschauung gelangen.
Bischoffshausen und Lojen, die in imaginativer Freiheit ein von Variationen bestimmtes Zeichenrepertoire entwickeln, beschränken sich auf wenige bildkonstituierende Elemente, die dem Bildgrund breiten Raum gewähren: sparsam gesetzte Linienverläufe; feine bunte Liniennetze, die die Fläche des Kartons überspinnen; Halbkreis- und Kreisformen, die austropfen oder nachrinnen; weiße oder bunte, gerissene oder geschnittene Papierstücke, die, aufgeklebt, mit den aufgemalten Farbstreifen einzelne Farbfelder bilden.
Materiehafter Auftrag, Spur und Zeichen bilden sich in der Oberfläche aus, zugleich brechen sie diese durch körperhafte Erhebungen, Einkerbungen und Applikationen. Plastische weiße Strukturen, wie Wülste mit runden Vertiefungen oder vorkragende Halbrundformen, werden aufgebracht, Realien eingefügt: ein Stück von Lojens Maltuch, abgebrannte Zündhölzer, einzelne Schnurstücke. Allein die künstlerische Absicht, das Einbringen eines realen Gegenstandes, macht die Realie zum Zeichen, kennzeichnet sie als Artefakt.
Der Bildträger selbst, in diesem Fall der Karton, wird grundlegender Bestandteil der künstlerischen Gestaltung. Die Künstler nehmen an ihm verschiedene Eingriffe vor: immer weder graben sie mit einfachem Werkzeug Linien in die Oberfläche des Papiers oder knicken die Papierbögen, wodurch horizontale Teilungen des Bildfeldes entstehen. Der untere Bildrand ist meist gerissen, ebenso wie Kreissegmente, die von den Bildrändern aus in das Bildfeld ragen. Besonders betont wird der Objektcharakter des Bildes in einer Arbeit, in der gerissene schmale Kartonstreifen in einem horizontalen Bündel auf das Bild aufgenäht sind und dabei die Bildränder deutlich überragen.
Die auffällig symmetrisch angelegten weiten mit und auf Papier künden darüberhinaus von einem starken Disziplinierungswillen der Künstler, der die Spuren und Zeichen in eine formale Geschlossenheit fügt. Dem Betrachter, der sich einer doch in hohem Maße mehrdeutigen Konfiguration gegenübersieht, stehen in der symmetrischen Wiederholung der Elemente elementare Bezugspunkte zur Verfügung: er kann bevorzugte Richtungen, Andeutungen von Beziehungen erkennen, welche seine Sensibilität leiten, kontrollieren, ausrichten.
III. Hans Bischoffshausens künstlerische Arbeit wird in den 80er Jahren sowohl in formaler als auch thematischer Hinsicht wesentlich von seiner zunehmenden Erblindung geprägt. Formale Veränderungen in Richtung einer neuen ausdrucksstarken Materialsprache mit chiffrenartigen persönlichen Zeichen zeigen sich schon seit seiner Rückkehr aus Paris nach Österreich im Jahr 1971. Wie er anlässlich einer Personalausstellung in einem selbstverfassten „Versuch einer Biographie" 1977 mitteilt, „brutalisiert" sich seine bildnerische Arbeit aufgrund einer Sehnervzerstörung, die ihn dazu veranlasst „das bislang verwendete Material wegzuwerfen und vorläufig eine wilde grafische Arbeit, ohne Maske, in Unrast zu produzieren.“3
Auch in den Gemeinschaftsarbeiten aus dem Jahr 1983 greift er auf das Repertoire an Formen und Methoden zurück, das er in der ersten Hälfte der 60er Jahre entwickelt hat. Dabei wendet er sich jedoch vom strukturellen Prinzip ab, das seine Arbeiten seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre, vor allem jedoch in seiner Pariser Zeit, den 60er Jahren, bestimmt hat. Mit dem Ziel, die Kunst des Informel zu überwinden, setzen damals neue Akzente unter anderen Lucio Fontana und die Zero-Gruppe, deren Bestrebungen in der Abkehr vom subjektiven Bild hin zu einer anonymen Bildstruktur mit denen von Hans Bischoffshausen korrelieren. Der Osterreicher wird Mitglied der Zero-Avantgarde, die den Begriff „Zero" definiert als „Name für eine Zone des Schweigens und neuer Möglichkeiten". Im Postulat von Reduktion und Meditation unter Anwendung sowohl von modernen technischen Mitteln wie von Naturkräften, soll die „friedliche Eroberung der Seele durch Sensibilisierung“5 (Otto Piene) erreicht werden.
Indem Bischoffshausen die systematischen, depersonalisierten Strukturanalysen im monochromen Weiß nicht zuletzt aufgrund seiner Sehschwäche aufgibt, greift er in seinem Spätwerk erneut zurück auf das Arbeitsprinzip der gestischen Malerei und der Materialbilder, das er Mitte der 50er Jahre für sich entdeckt und aus dem er die Grundlagen für sein späteres Werk entwickelt hat. Die von ihm sogenannte „wilde" Arbeitsweise zeigt sich im Reißen oder Durchstoßen von Papier, der Heftigkeit des Farbauftrags, der expressiven Handhabung des plastischen Materials, mit dem er Wulst- und Rippenformen aufbringt. Verdrängte ehedem die anonyme Struktur das gestische Zeichen, so dominiert in den 80er Jahren erneut der individuelle Duktus einer ausdrucksvoll-emotionalen Formensprache.
IV. Lojen beginnt um 1955 zu malen – in einer Zeit, in der das Informel seine Blütezeit erreicht und der für ihn bedeutsame Freund und Anreger Hans Bischoffshausen seinen Exkurs in die gestische Malerei unternimmt.
In den 50er Jahren hat die informelle Arbeitsweise ausgehend vom Paris der 30er und 40er Jahre im gesamten westlichen Kulturkreis – von den USA über Europa bis Japan – eine führende Rolle übernommen. Die dem informellen Kunstbegriff inhärente Offenheit, Grund für die in der Kunstgeschichtsschreibung bis heute reichenden Missverständnisse und Definitionsschwierigkeiten, führt von Beginn an zu einer Inflation der Begriffe: man spricht u.a. von Abstraktem Expressionismus, Tachismus, Lyrischer Abstraktion, Art Informel oder Art Autre. Informel kann sich als Leitbegriff durchsetzen und beeinflusst, da es keine neue verbindliche formale Grammatik oder Gestaltlehre vorschlägt, nicht als Stil, sondern als Methode, als programmatische Arbeitsweise, die Kunst nach 1945 nachhaltig. Noch Bischoffshausen und Lojen orientieren sich in ihren Gemeinschaftsarbeiten an Idealen der konkreten, unmittelbaren Präsenz des Materials, der Aleatorik, des Fragmentarischen und einer grundsätzlichen Ambiguität des künstlerischen Ergebnisses.
Die Erfahrung mit dem Informel bringt eine neue Form des direkten Umgangs mit dem Material. Eine Phänomenologie informeller Bilder würde das Vorhandensein von spontanen Gesten, Zeichen und materiellen Verdichtungen konstatieren. Polaritäten werden aufgehoben, Grenzen verschwimmen oder schieben sich ineinander: diejenigen von Innen und Außen, Form und Inhalt, Bildgrund und Form, Subjekt und Objekt, Künstler und Werk, Werk und Betrachter. Die damit verbundene Veränderung und Neudefinition des Kunstwerksbegriffs besitzt historische Tragweite.
Die Hinwendung zum Offenen, potentiell Unabgeschlossenem, Unbestimmten führt direkt zum Begriff des „offenen Kunstwerks". Umberto Eco prägte ihn Anfang der 60er Jahre nicht zuletzt angeregt durch die Kunst des Informel, die er in einem weiteren, grundsätzlicheren Sinn als „Poetik des Informellen", d.h. als allgemeine operative Tendenz einer bestimmten Periode analysiert.6 Poetik wird dabei nicht als System zwingend gültiger Regeln verstanden, sondern als Handlungsanweisung, die dem Künstler methodische Direktiven vorschlägt. Nicht zufällig entwickelt sich gerade nach 1945 eine Problematik und Poetik der „Offenheit". In der formalen, strukturellen Widerspiegelung moderner wissenschaftlicher Methodologien und eines damit verbundenen neuen Realitätsbegriffs, wird das, was die Ästhetik als allgemeine Bedingung der Wahrnehmung von Kunst schon längst erkannt hat (nämlich die Polyvalenz des Kunstwerks), zur aktuellen Programmatik erhoben. „Offenheit" im Sinne einer grundsätzlichen Ambiguität der künstlerischen Botschaft, welche die Existenz einer einzigen privilegierten Erfahrung und Perspektive leugnet, wird dabei als grundlegende Möglichkeit des modernen Künstlers und Betrachters postuliert. Für Eco stellt das Informelle „so mit seinen Mitteln die Kategorien der Kausalität, der zweiwertigen Logiken, die Eindeutigkeitsbeziehungen, das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in Frage.“7
In die Diskussion um den missverständlichen Begriff des „lnformel" bringt Eco einen neuen Formbegriff ein: das „Möglichkeitsfeld". Das offene Kunstwerk als Konfiguration von grundsätzlich indeterminierten Reizen bietet demnach ein Feld interpretativer Möglichkeiten. Der aus der Physik stammende Begriff des Feldes impliziert eine neue Auffassung von den bislang als eindeutig und einsinnig verstandenen Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, als komplexes Interagieren von Kräften, als dynamische Konstellation von Ereignissen. Der philosophische Begriff der Möglichkeit spiegelt die gesamte Tendenz der zeitgenössischen Wissenschaft in der Offenheit für persönliche Entscheidungen und der Anerkennung einer an Situation und Geschichte gebundenen Relativität jeder Ordnung wider.
Welcher Art nun ist die ästhetische Betrachtungsweise solcher Bilder? Die methodisch postulierte Unvoreingenommenheit und Offenheit des Künstlers im bildnerischen Akt gilt ebenso für den Betrachter. Denn eine Poetik des Informellen stellt Betrachter und Werk in einen neuartigen und zukunftsweisenden Zusammenhang. Sie inszeniert einen Dialog zwischen der bildnerischen Struktur als System gesetzter Relationen und der Reaktion des Rezipienten als aktive Auseinandersetzung mit diesem System. Ihm steht es frei, sich um das Erkennen einer Botschaft zu bemühen oder sich dem unkontrollierten Fluss seiner spontanen Reaktionen zu überlassen. Die über das Blatt verteilten Zeichen, deren Anordnung einer bildimmanenten, rein bildnerischen Logik folgt, laden uns dazu ein, selbst Beziehungen herzustellen. Ein Vorgang, der nicht willkürlich erfolgt. Lenkt doch die im Zeichen festgelegte, formgewordene künstlerische Geste, der Akt der ursprünglichen Zeichensetzung, unsere Aufmerksamkeit in bestimmte Richtungen und letztlich zurück zur Absicht des Urhebers. Möglich wird dies durch das Ineinandergreifen von Geste und Zeichen, in welchem das Material sich den formenden Impulsen fügt, ohne seinen Eigenwert aufzugeben.
Vl. Das europäische Informel wird ab den 60er Jahren auch in Österreich nur mehr aus der Perspektive der nachfolgenden Kunstströmungen diskutiert, als wegbereitender Vorläufer einer Entwicklung, die zum „Ausstieg aus dem Bild", zur „Überwindung des Tafelbildes" und damit in den Realraum, in den Aktionismus, zur Auflösung der Grenzen zwischen den einzelnen Kunstgattungen geführt hat.
Unabhängig von der durch internationale Kunstkritik und Kunstpublizistik anerkannten Avantgarde hält Lojen (nicht nur eine Folge seines Daseins in Graz) am Bild fest8 und entwickelt seine Formensprache, die nicht zuletzt aufgrund seines umfassenden Wissens um die Kunst des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Lösungen gefunden hat. Immer aber folgen diese einer inneren, bildimmanenten und darüberhinaus einer werkimmanenten Logik, die das Vorangegangene mit dem Neuen und Zukünftigen verbindet. Damit schafft der Künstler aus Zusammenhängen, welche das Werk in Beziehung setzen zu einem Gesamten. Und von hier aus wird auch verständlich, warum er Polaritäten nicht als Antagonismen versteht, sondern sie zusammenführt, das Potential beider Seiten auszuschöpfen versucht.
Gehört Lojen vielleicht zu jener „anderen Avantgarde", die Robert Fleck 1982 vermerkt und zu der er unter anderen Johannes Itten, Oskar Schlemmer, Willi Baumeister, Raoul Hausmann, Frederick Kiesler und nicht zuletzt den für Lojen wichtigen Joseph Beuys zählt? Gemeinsam ist den Genannten die mühelose Ausdehnung ihres Tätigkeitsbereiches in andere Berufe und Kunstsparten. Auch Lojen arbeitet nicht nur als Künstler, sondern auch als Architekt und setzt seine künstlerischen Ideen in verschiedenen Medien um: neben Bildern entstehen Buchobjekte und Skulpturen für den öffentlichen Raum. Darüberhinaus initiiert er Aktionen.
In den Arbeiten der Vertreter dieser anderen Avantgarde, die sich grundsätzlich durch Merkmale wie Ablehnung von Rationalismus und Irrationalismus, des impressionistisch-Zufälligen und des modernen Fortschrittsdenkens auszeichneten, zeige sich stets die Visualisierung eines Prinzips, einer Gesamtheit, aus der heraus das jeweilige Werk entsteht. Fleck schreibt: „Kunst ist ihnen die Totalität einer Haltung, die mit einem Weltganzen in Kontakt steht. Sie fühlen sich als Organe eines Weltganzen, eines Ordnungsgefüges, das sie jedoch nicht statisch sehen, sondern in dauernden Metamorphosen. Kunst selbst wird ihnen daher zur Metamorphose [ ... ] der Sinn des Werkes ist für sie immer schon da, er braucht nicht erst errungen zu werden."9 Lojens stringente künstlerische Entwicklung wird zwar vorangetrieben durch seine „Sehnsucht nach radikalen, ultimativen Bildern"", vollzieht sich jedoch stets in Kontexten, einem Weltganzen wie der Kunstgeschichte im Allgemeinen und den bildnerischen Resultaten seiner Arbeit im Besonderen. Wieweit er seine schöpferische Tätigkeit selbst als eine des Reagierens und Integrierens versteht, ist abzulesen an einer von ihm gestellten Frage: „Könnte es nicht so sein, dass alle Bilder dieser Welt schon immer bestehen und einige durch die Künstler in die Sichtbarkeit gebannt werden?“11
1 Wenn Titel vorhanden sind, werden diese — wie Albatros oder Kreuz — handschriftlich in das Bild integriert.
2 Lojen im Gespräch mit Peter Weibel, Gerhard Lojen Werke 1955-2000 (Kat.), Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Verlag Droschl, Graz 2001, S. 28.
3 in: Hans Bischoffshausen 1950-1977 (Kat.), Neue Galerie der Stadt Linz/Neue Galerie Grazwiener Secession/Kärnter Landesgalerie Klagenfurt, 1977
4 vgl. Arnulf Rohsmann, Bischoffshausen. Struktur -Monochromie - Reduktion, Klagenfurt 1991
5 zit. nach: Robert Fleck, Avantgarde in Wien, Galerie nächst St. Stephan, Wien 1982, S. 204
6 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk in den visuellen Künsten (erschienen im Juni 1961 in der einzigen Nummer von II Verri, die sich ausschließlich mit der informellen Kunst befaßte), in: Ders., Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1998
7 Eco, op.cit., S. 160
8 Lojen geht insofern in den Raum, als er auch Skulpturen und Buchobjekte schafft.
9 Fleck, op.cit., S. 361
10 Lojen im Gespräch mit Weibel, op.cit., S. 36
11 Lojen im Gespräch mit Weibel, op.cit., S. 30