Gerhard Lojen — ein Prototyp der steirischen Moderne (2000)

Text von Peter Weibel

Peter Weibel: Im Österreich der 50er Jahre dominierten in jenen relativ kleinen Kreisen, die sich mit moderner Kunst auseinandersetzten, speziell in Wien, Aneignungen bzw. Wiederverarbeitungen – zum Teil verspätete – zweier Kunstrichtungen: des Surrealismus und des Informel. Natürlich gab es auch Aufarbeitungen der geometrischen Abstraktion bzw. der klassischen Moderne. Umso mehr erstaunt es, dass Sie sich in den späten 50er Jahren mit Materialmalerei beschäftigten. Ihre Materialbilder sind neben den Arbeiten von Hans Bischoffshausen (aus Kärnten) und Oswald Oberhuber (aus Tirol) neue Zeugnisse einer eigenständigen Moderne in Österreich in Übereinstimmung mit internationalen Tendenzen von Burri bis Fautrier und Tapies, deren Arbeiten sie ja kannten. Woher kommt dieses Materialgefühl, dieses Interesse an Materialversuchen, an den Eigengesetzlichkeiten der Farbe und anderer Malmaterialien?

Gerhard Lojen: In der Mitte der 50er Jahre habe ich Graz so gut wie nie verlassen, d. h. auch keine Ausstellungen anderswo besucht. Die Stadt erschien mir weitab von möglichen Turbulenzen irgendwelcher Aneignungen oder Wiederverarbeitungen. Das, was hier als Surrealismus gehandelt wurde, hat mich überhaupt nicht interessiert.

Bei mir selbst ist das alles ausgegangen von Versuchen mit der traditionellen Ölmalerei, und zwar mit vier Tuben, einem Malkarton und ein paar Pinseln. Der vorerst dünne Farbauftrag war auch bedingt durch den Materialmangel. Als ich dann begonnen habe, mir Farben selber anzureiben, konnte ich schon tiefer in den Farbtopf greifen und die Farbpaste mit der Spachtel in rhythmischen Strukturen bearbeiten.

Dazu kam als für mich neues Material Lack, der dünnflüssig auf dem Malgrund seine Spuren hinterlassen hat, etwa durch Rinnen oder Ziehen in Fäden, oder der in der Mischung der verschiedenen Farben wie in kleinen Zeltstrukturen geronnen ist. Getrockneter Lack konnte auch wieder angelöst werden. Diese Eigengesetzlichkeiten brauchte ich ja nur wahrzunehmen. Gegen sie zu arbeiten, wäre einer Vergewaltigung des Materials gleichgekommen.

Parallel dazu entstanden Serien von Aquarellen. Nach etlichen Blättern, in denen die Farbe aus dem Pinsel herausgeschleudert wurde oder aus einiger Entfernung auf das am Boden liegende Papier auftraf, folgte die Reihe der „Landschaftsaquarelle", alle in lang gestreckten horizontalen Passepartout-Ausschnitten. Wahrscheinlich wird bei den Aquarellen die Eigengesetzlichkeit des Materials am deutlichsten spürbar.

Die direkte Konfrontation mit Werken von Burri oder Tapies erfolgte erst später und war für mich ungeheuer faszinierend.

P- W.: Gab es auch andere Versuche in Graz, wie z. B. Rudolf Pointner? Bei der Entwicklung Ihres Materialbewusstseins als Medium und Modell für Malerei - fühlten Sie sich dabei isoliert in Österreich? Ihre Materialbilder sind weder informel noch strukturell organisiert, sondern haben akkumulativen Charakter. Nach welchen Kriterien haben Sie Ihr Material geordnet, ausgesucht bzw. Ihr Materialgefühl intensiviert?

L.: Rudi Pointner war ein im Grunde liebenswerter, überaus hilfsbereiter Künstler, auch wenn das nicht immer so ausgesehen haben mag. Und ein unermüdlicher Arbeiter von hohem handwerklichen Können. Meiner Meinung nach war bei ihm der virtuose Umgang mit einem „artfremden" Material am stärksten ausgeprägt. Bei anderen Künstlern erschöpften sich die Spaziergänge in dieses Feld ziemlich rasch und folgenlos.

Isoliert habe ich mich damals in Österreich nicht gefühlt, mir genügte der Kreis der Grazer Sezession mit Weber, Fabian, Pointner, Aduatz, und nicht zuletzt Hans Bischoffshausen, mit dem ich im guten Kontakt stand, den ich mehrfach in Villach besuchte und von dem ich gelernt habe, dass kompromisslose Disziplin eine Voraussetzung jedes künstlerischen Schaffens ist.

Bischoffshausen, den ich für den am meisten unterschätzten Künstler Österreichs halte, war in seiner Arbeit viel weiter gekommen als ich neben meinem Studium, das doch einen wesentlichen Teil meiner Zeit beansprucht hat.

Ausgesucht habe ich mein Material aus dem, was ich eben zur Hand hatte oder geschenkt bekam, Lackreste in großen Behältern, Verschnitt von Hartfaserplatten oder Leinwandreste. Wenn etwas gefehlt hat, musste ich es eben kaufen oder konnte es hin und wieder gegen eine Arbeit tauschen. Und knapp Vorhandenes ist eben wertvoll und führt zu einem möglichst sparsamen und sorgfältigen Gebrauch. Der Materialeinsatz erfolgte kontrolliert, die Formgebung intuitiv.

P W.: Aus der Materialmalerei hätten Sie ja weitergehen können in die Assemblage, in den Nouveau Realisme, in die Aktionsmalerei, deren Beginn Sie ja von Jackson Polfock, Yves Klein, Mathieu kannten. Die Wiener Aktionisten begannen ja um 1960 ebenfalls mit Materialmalerei, mit der Flüssigkeit der Farbe. Warum sind Sie am Ende der 60er Jahre zur Acrylfarbe zurückgekehrt, ein gleichsam klassisches Material? Und sind beispielsweise nicht in die Materialskulptur weitergegangen?

L.: Das war einfach nicht meine Orientierung. Und die Acrylfarbe war für mich ein neues Material, das andere Eigenschaften aufweist und anderen Spielregeln unterliegt als die Ölfarbe. Sie kann auch sehr liquid eingesetzt .werden, hat keine allzu langen Trocknungszeiten und durch ihre Filmbildung kann eine andere Oberfläche erreicht werden als etwa mit der Ölfarbe.

P W.: Auffallend ist in der Tat Ihr Arbeiten in Serien, Schüben, Perioden. Könnten wir versuchen, Ihr Werk zu periodizieren? Z.B. malten Sie in den 50er Jahren dunkle, dynamische Materialbilder voller Wut, Aggressivität. Später, Ende der 70er und 90er Jahre malten Sie sehr beruhigte, apollinische, reduzierte, weiße, fast leere Bilder. Sie beschäftigten sich mit dem Bildrand, dem Rahmen usw. Sie arbeiten in entgegengesetzten Polen.

Kann man sagen, dass Sie ein Leben lang am modernistischen Paradigma, wie es Clement Greenberg formulierte, nämlich an der Flachheit der Bilder als Grundlage ihrer Autonomie festhielten? Im Grunde sieht man bei Ihnen stets die flache Fläche des Bildes, meist Leinwand, auf der die Farbe abstrakt aufgetragen wird. Auf der einen Seite die Bildfläche, auf der anderen Seite die reine Farbe. Fläche und Farbe begegnen sich. So werden aus leeren Bildflächen Farbbilder, oft monochrom, und gelegentlich (1977/78) immer leerer. Verlässt die konstruktive Flächenverschiebung am Ende die Bildfläche? Bedeuten die Randzonenbilder die Rückkehr zur reinen Fläche? Verdrängt die Fläche die Farbe? Bedeutet der Verlust der Farbe die Immaterialität?

 L.: Natürlich können wir versuchen, mein Werk zu periodizieren, wahrscheinlich nützt das der Überschaubarkeit. Allerdings habe ich meine dunklen Bilder nie voller Wut gemalt, aber Aggressivität lasse ich gelten. Später gewann die oft mit der Spachtel aufgetragene Farbe zusehends an Gewicht. In den geometrischen Bildern ist die Farbe in rechteckigen Farbfeldern sehr flach vermalt, und zu Beginn der 80er Jahre steigt, wie Sie richtig beobachtet haben, der Weißanteil deutlich an, was die Bilder tatsächlich zu beruhigen scheint. Das heißt, es liegen Farbbänder auf dem weißen Bildgrund auf. Bei den ersten Arbeiten Gegen Ende zu weiß (und bei ein paar anderen auch) ist die weiße Grundierung nicht mehr flächendeckend aufgebracht, und so bleibt ein Teil der rohen Leinwand frei, auf der die weißen Pinselspuren stehen. Dem Betrachter begegnet nicht mehr allein die bemalte Bildfläche, sondern auch noch das, was dahinter besteht. Könnte es nicht so sein, dass alle Bilder dieser Welt schon immer bestehen und einige durch die Künstler in die Sichtbarkeit gebannt werden?

Ich habe beispielsweise die Raster meiner Farbgitter als unbegrenzte flächige Systeme aufgefasst, die im Bereich einer Bildtafel sichtbar geworden sind. Das gilt auch für das Johannes Kepler-Denkmal, bei dem ausschließlich innerhalb der Vitrinenräume Teile des elliptischen Kegelmantels gezeigt werden, auf dem Keplers Überlegungen basieren. Die Randzonenbilder sind nichts anderes als Bildtafeln, in denen die Mehrfarbigkeit an die Peripherie verschoben ist und die Mittelfläche ein homogenes Farbfeld bleibt und so die Spannung zwischen Zentrum und Rand aufzeigt. Möglich, dass in dem einen oder anderen Fall der Anschein entsteht, dass die Fläche die Farbe verdrängt (ist das nicht eine subjektive Interpretation?). Ich würde nicht wagen, daraus eine Immaterialität des Bildes zu folgern. Greenbergs „Flatness" (sowohl der Begriff als auch seine Behauptung sind mir keinesfalls unsympathisch) markiert einen für mich sehr wichtigen Teil der amerikanischen Malerei. Aber dass ich ein Leben lang dogmatisch in meiner Arbeit daran festgehalten haben soll, dem kann ich schon aus dem Grund nicht zustimmen, weil ich ja noch lebe. Gott sei Dank!

P W.: Warum gab es neben den binären Oppositionen der dunklen Materialbilder und der weißen Leerbilder, also neben der Auseinandersetzung mit reiner Fläche und reiner Farbe, auch noch Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit der Form? Und auch hier entgegengesetzte Pole, nämlich informel (Aquarelle mit der Eigengesetzlichkeit der Wasserfarbe) und strukturell (geometrische Formen, geometrische Motive).

  L.: In der Malerei ist für mich die Form nicht von der Farbe zu trennen. Das, was Sie als Leerbilder bezeichnen, sind ja nicht leere Flächen, sondern sie tragen einfache und exakt begrenzte Formen, auch wenn sie manchmal nur in der Materialstärke des aufgetragenen Formweiß lesbar sind. Und selbstverständlich schlägt sich die Farbe auch in den informellen Aquarellen in Formen nieder.

P W.: Die geometrische, konstruktive Formensprache wurde ja sogar bis zur Signalsprache vorangetrieben. Das Formelhafte – wie entwickelte es sich aus der Fläche und der Farbe als dritte Konstante Ihres Werkes?

 L.: Der Ausdruck zeichenhaft erscheint mir richtiger als formelhaft. Ausschlaggebend dabei war das Streben nach Einfachheit. Alles nicht unbedingt Notwendige sollte weggelassen werden, oder – frei nach Einstein – „Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher". Ein bisschen Augenzwinkern kann aber schon auch dabei sein.

P W.: Sie begannen mit Materialbildern Ende er 50er Jahre und schufen Ende der 70er Jahre mit den Randzonen-Bildern sehr immaterielle Werke. Diese Entwicklung – wie wurde sie durch die Farbstruktur und die Zeichenstruktur und die Bildfläche erzwungen? Was bedeutet für Sie die Kongruenz des inneren des äußeren Bildes?

L.: Die Materialbilder gewinnen für mich ihren entscheidenden Stellenwert als Werkgruppe, d. h. als eine sich entwickelnde Serie, in der die ihr innewohnenden bildnerischen Möglichkeiten ausgelotet und umgesetzt wurden. Insofern waren sie mir nicht nur ein tragfähiges Fundament für die weitere Arbeit, sondern sie enthielten auch die Ansätze neuer Wege. In diesem Fall war es eine ganz bestimmte Auseinandersetzung mit der Farbe. Das eben Gesagte ließe sich Serie um Serie fortschreiben wie eine Kettenreaktion. Mit den gemachten Erfahrungen gewann ich immer wieder neue Arbeitsfelder. Da liegt es nahe, immer weiter an die Grenzen zu gehen, die Sehnsucht nach radikalen, ultimativen Bildern wird immer größer – und wird nie eingelöst. Auch nach dem letzten Bild gibt es ein neues letztes Bild, aber die Randbedingungen haben sich verändert. Was bleibt, ist die Sehnsucht – eine Sucht wie andere auch.

Vielleicht hängt damit auch die Kongruenz des inneren und des äußeren Bildes zusammen, immer angepeilt, oft in greifbare Nähe gerückt, in dieser Wirklichkeit nie erreicht.

P W.: Ihr Interesse für Beuys – stammt es ursprünglich aus Ihrem Interesse für Material, weil ja auch Beuys dem Materialbewusstsein der Avantgarde der 50er und 60er Jahre verpflichtet war? Wie weit stimmen Sie mit ihm überein in der Entwicklung einer ästhetischen Lehre als Ethik, einer Kunstform als Lebensform?

L.: Ich habe schon recht früh von Beuys und seinem außergewöhnlichen Umgang mit dem Material gehört, konnte aber aus Erzählungen allein nichts damit anfangen. Die Arbeiten, die ich dann viel später gesehen habe, beeindruckten mich vor allem durch ihre überzeugende Präsenz. Sie waren einfach da und nicht mehr wegzudiskutieren, auch wenn ich sie nicht immer gleich verstehen konnte. Da spielte seine Materialbehandlung eine Rolle. Aber Beuys erspart uns nicht die Auseinandersetzung mit seinem Denken und seinem Werk. Abgesehen davon, dass er ein hervorragender Zeichner war, ist heute mehr denn je seine gesellschaftspolitische Arbeit auf der Basis seines erweiterten Kunstbegriffs von grundlegender Bedeutung.

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